Hier riecht es nach Tod

 

 

Exklusiv: Vorabdruck aus Lissbeth Lutters neuem Roman

 

 

Im Mai 2019 erscheint im de Noantri-Verlag der Anti-Heimat-Krimi „Hinterwald“ von Lissbeth Lutter – eine literarische Aufarbeitung der Verbrechen der Gebirgsjäger und des Widerstands gegen die Heldenverklärung deutscher Kriegsverbrecher. Das Hinterwalder Tagblatt veröffentlicht exklusiv den Prolog des Romans, der ab sofort unter denoantri@web.de bestellt werden kann (siehe auch auf der Startseite).

 

 

 

Hier riecht es nach Tod. Überall. Ich bekomme den Gestank nicht mehr aus der Nase. Weder der Nordwind noch der heiße Fön aus dem Süden können ihn wegblasen. Die Augustsonne müht sich vergeblich, den Geruch wegzubrennen und auch der Novemberregen schafft es nicht, die Luft wieder reinzuwaschen.

 

Als ich vor Jahren hierherkam, da duftete es noch – jedenfalls glaubte ich das. Im Frühjahr sog ich den Geruch ein vom Harz der Fichten und Latschenkiefern, im Sommer den der Almweiden, im Herbst dufteten die Hänge nach Schwammerln und Moos. Selbst den Schnee konnte ich riechen, schon Tage bevor es die ersten Flocken bis hinunter ins Tal schafften. Doch nun wittere ich überall nur den süßlichen, widerwärtigen Geruch des Todes.

 

Es begann ganz langsam, erst nahm ich ihn nur manchmal wahr, doch nach und nach breitete sich der Gestank aus wie ein schweres giftiges Gas, das den Boden entlangkriecht. Ich hab mich lange gefragt, ob er von Norden oder von Süden kam, ob er sich von den grünen Hügeln im Westen oder von den steilen Felswänden im Osten hinunter senkte. Heute weiß ich, der Gestank kommt nicht von außen, er kommt direkt von hier. Aus der gepflasterten Fußgängerzone, aus den Geranien behangenen, mit Lüftlmalerei protzenden Häusern, die so breit und selbstgerecht daher kommen wie ihre Bewohner. Und natürlich aus den langgestreckten Bauten der Kasernen, die den halben Ort einnehmen und wo die Soldaten seit Jahrzehnten fürs Töten und fürs Sterben trainiert werden, bevor sie dann von hieraus zum Töten und Sterben geschickt werden.

 

Warum riechen es all die Touristen nicht, die jedes Jahr hierherkommen? Warum habe ich es so lange nicht gerochen? Warum werde ich es nun nicht mehr los?

 

 

Erst heute bemerke ich überall die Zeichen, sehe, dass der Tod hier allgegenwärtig ist. Die Berge des Karwendel, gekrönt von den Gipfelkreuzen, Symbole für Folter und Tod, auch wenn an ihnen nicht der geschundene Leichnam hängt, der unten im Tal an jeder Weggabelung auf die Spaziergänger hinunterblickt. Die Klettersteige und Steilwände, in denen ich dem Tod so oft begegnet bin, wenn die Bergwacht im Sommer und im Frühherbst wieder einen übermütigen Bergsteiger vom Felsen kratzen musste.

 

Auch die Straßenränder gespickt mit Kreuzen und kleinen Stelen, darauf Name, Datum, manchmal auch ein Foto, davor ein mehr oder weniger welker Blumenstrauß. Als die alte kurvige Staatsstraße vor einigen Jahren der neuen breiten Umgehungsstraße weichen musste, verschwanden all die Marterl und ich habe mich oft gefragt, was aus ihnen geworden ist. Ob sie den Angehörigen zurückgegeben wurden, ob sie sich nun in einer Halle der Straßenmeisterei stapeln oder einfach von den Raupen, Walzen und Teermaschinen untergepflügt wurden?

 

Jedenfalls verschwand der Tod für kurze Zeit aus dem Straßenbild. Doch schon bald schmückten wieder Kreuze die Kurven der neuen breiten Straße, die noch mehr Opfer forderte als die alte: Touristen auf der Durchreise, die es nicht mehr in die Toscana schafften, sondern von rasenden Einheimischen erlegt wurden. Verschlafene Fahranfänger, die im morgendlichen Berufsverkehr den Eisflächen auf der Amperbrücke nichts entgegenzusetzen hatten. Vor allem aber die Dorfjugend auf der Flucht vor der Ödnis ihrer Heimat hinein ins verlockende Nachtlebenden der entfernten Kreisstadt, dessen Dumpfheit, ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen, nur mithilfe diverser Betäubungsmittel zu ertragen ist.

 

Wer schließlich das Dorf auf der Kreisstraße Richtung Osten verlässt, findet dort direkt am Ortsausgang ein ganz besonderes Marterl, das nicht an einen nächtlichen Verkehrsunfall erinnert, sondern an einen Mord am helllichten Tage: An den Tod von Anton Sanktjohannser, Angestellter der örtlichen Raiffeisenbank, erschossen an einem Juniabend auf dem Weg nach Hause. Der Täter entkam auf dem Motorrad mitsamt der Beute, dem Milchgeld der hiesigen Bauern. Der Mörder wurde nie gefunden und obwohl die Tat nun schon über ein halbes Jahrhundert vergangen ist, ist sie bis heute eine offene Wunde. Als ich vor wenigen Jahren anlässlich der 50.Wiederkehr des Milchgeldmordes darüber eine Artikel schreiben wollte, fand sich kein einziger der Zeitzeugen bereit, mit mir darüber zu reden: „Lass die Toten in Ruhe.“

 

Doch was, wenn die Toten selbst keine Ruhe geben wollen? Wenn sie anfangen zu stinken? Wenn sich hinter der krachledernen Idylle so viele Leichen türmen, dass der Gestank irgendwann unerträglich wird?

 

Und ich meine nicht die aus den zerquetschten Autowracks herausgeschnittenen Leiber, nicht die zerschmetterten Bergsteiger, nicht einmal den unglücklichen Anton Sanktjohannser. Hier gibt es noch ganz andere Leichen, hunderte, wenn nicht gar tausende, erschlagen, erschossen, verbrannt, geschändet. Tote, die nicht ruhen wollen. Und heute weiß ich, was der Satz „Lass die Toten in Ruhe“ eigentlich bedeutet: Lass die Mörder in Ruhe.